TSCHERNOBYL
TOURENReaktor Nr. 4 des AKW Tschernobyl geriet am 26. April 1986 außer Kontrolle und brachte einem riesigen Areal um ihn herum Tod und radioaktive Kontaminierung. Das Kraftwerk selbst liegt rund 110km (70 Meilen) von Kiew entfernt, der Hauptstadt der Ukraine, und nicht weit vom Herzen Europas.
Am 26. April 1986 waren Vorbereitungen im Gange, Reaktor vier im AKW Tschernobyl für einige geplante Wartungsarbeiten herunterzufahren. Es wurde beschlossen, die Abschaltung zu nutzen, um einen Sicherheitstest des Reaktors (RBMK-1000) durchzuführen. Doch vieles lief während des Tests falsch, was zur Folge hatte, dass ab 1:24 Uhr eine Serie von Dampfexplosionen das Reaktorgebäude zerstörten und das Dach absprengten, wodurch die Luft und die Gegend stark mit radioaktiven Substanzen verunreinigt wurde. Die hochradioaktiven Elemente aus dem Brennstoff und Graphit des teilweise geschmolzenen Reaktorkerns flossen in die Räume unterhalb des Reaktors. Die Situation war brandgefährlich und umfassende Maßnahmen waren dringend nötig, um ein völliges außer Kontrolle Geraten zu verhindern. Von den 192 Tonnen an Brennstoff im Reaktorkern wurden innerhalb von zehn Tagen nach dem Unglück etwa vier Prozent in die Athmosphäre freigesetzt. Den Hauptteil davon machten radioaktives Jod, Strontium, Plutonium und andere Isotope aus. Die Gesamtmenge an freigesetzter Radioaktivität betrug annhähernd 50 Mio Curie, was der Intensität der simultanen Explosion von 500 Atombomen entsprechen würde, wie sie im August 1945 über Hiroshima abgeworfen wurden. Die heißen Gase aus dem brennenden Reaktor stiegen bis in eine Höhe von etwa einem Kilometer und sanken erst allmählich auf niedrigere Höhen herab. Die über dem AKW hängende radioaktive Wolke wurde von den Winden über die ukrainische Region Polesien und einige Gebiete Weißrusslands und Russlands verteilt. Etwas später wurden erhöhte Messwerte an Strahlung in Schweden, Finnland und später Polen, Deutschland und Frankreich gemessen.
Wenige Minuten, nachdem die Explosion den Reaktor zum Brennen gebracht hatte, eilten zwei Divisionen der Feuerwehr, eine angeführt von Leutnant V. Prawik, die andere –die kraftwerkseigene Feuerwehr- angeführt von Leutnant V. Kibenok, auf das Dach des Reaktorgebäudes. Teile des Dachs in der Nähe des brennenden Reaktors standen bereits in Flammen. Diese Männer schafften es, das Feuer zu löschen und eine Ausbreitung auf den dritten Reaktor zu verhindern. Innerhalb kurzer Zeit erreichten weitere Feuerwehreinheiten aus der gesamten Kiewer Region das Kraftwerk. Die allermeisten der Feuerwehrleute, die als erste den Kampf gegen das brennende Gebäude aufnahmen, erhielten eine tödliche oder fast tödliche Strahlungsdosis. Erst brachte man sie in das Krankenhaus Nr. 126 in Prypjat (ihre Uniformen liegen immer noch im Keller des Krankenhauses, wodurch dieser Ort extrem verstrahlt wurde) und dann, am 27. April, in die Klinik Nr. 6 in Moskau. Die Ärzte scheuten keine Mühen, um ihre Leben zu retten, doch alle von ihnen verstarben. Die fünfköpfige Feuerwehreinheit von H. Nahajewski schaffte es, das radioaktive Wasser, das sich unter dem Reaktor angesammelt hatte, abzulassen und so die Gefahr einer weiteren vernichtenden Explosion abzuwenden. Örtliche Polizeieinheiten, Militärabordnungen und weitere Spezialisten leisteten ebenfalls unschätzbare Beiträge bei der Abwendung von noch größerem Schaden. Am 27. April wurden mehrere Abordnungen der Armee und der Luftwaffe nach Tschernobyl verlegt, um bei der Beseitigung der Unfallfolgen mitzuarbeiten. Dafür waren rund 1.800 Helikopterflüge nötig. Das Ergebnis dieser gemeinschaftlichen Anstrengungen war die Reduktion des radioaktiven Ausstoßes auf einen Bruchteil der ursprünglichen Menge bis zum 6. Mai 1986. Daraufhin wurde der Bau einer speziellen Schutzkonstruktion beschlossen, die später ‚Sarkophag‘ genannt werden sollte. Das Hauptziel dieses ‚Sarkophags‘ war der Einschluss des havarierten Reaktors und damit die Reduktion des radioaktiven Ausstoßes in die Atmosphäre auf ein Minimum. Alles in allem waren an den Arbeiten zur Beseitigung der Unfallfolgen mehr als 600.000 Zivilisten und Militärangehörige in den Jahren 1986 und 1987 beteiligt. Viele von ihnen fanden den Tod, und noch viele mehr erlitten gravierende gesundheitliche Schäden, doch sie schafften es, die Radioaktivitätslevel zu reduzieren und ermöglichten somit auch die Besuche der Sperrzone heutzutage. Unsere Dankbarkeit ihnen gegenüber wird niemals sterben. Die Evakuierung der Anwohner begann am 27. April, 36 Stunden nach der Explosion. Als erstes wurde Prypjat evakuiert. Prypjat lag nur drei Kilometer vom AKW entfernt, und leider wurden die Einwohner (knapp 50.000 Menschen) nicht vor der radioaktiven Gefahr, die ihnen drohte, gewarnt; sie alle erhielten hohe Dosen an Strahlung. Man wies die Menschen an, nur Dokumente und das Allernötigste mitzunehmen, da sie in drei Tagen wiederkehren würden. Insgesamt wurden rund 220.000 Menschen aus den kontaminierten Gebieten der Ukraine und Weißrusslands evakuiert. Über die Zahl der Menschen, deren Gesundheit durch das Unglück in Mitleidenschaft gezogen wurde, gibt es keine verlässlichen Angaben. Die Sowjetzeit ist bekannt für Propaganda und das Zurechtbiegen von Fakten, um der Diktion des Regimes zu entsprechen. Zu Beginn der Neunziger Jahre wurde ein starker Anstieg an Krankheitsfällen in der ukrainischen Bevölkerung verzeichnet, hauptsächlich Krankheiten die Lunge betreffend, das Nervensystem, die Verdauung und die Organe des Blutkreislaufs. Insgesamt gelten rund 3,2Mio Menschen in der Ukraine als in direkter Konsequenz der Havarie gesundheitlich beeinträchtigt.
Prypjat wurde 1970 für die Arbeiter des AKW Tschernobyl gegründet. Sie wurde buchstäblich auf einer grünen Wiese aus dem Boden gestampft, inmitten der ‚Polesien‘ genannten Region der Ukraine, nahe der weißrussischen Grenze. Es gibt auf der gesamten Welt keine zweite Stadt dieser Art. Prypjat verwandelte sich von einem blühenden, glücklichen Ort, Musterbeispiel für die Macht der Sowjets und die kommunistischen Ideale, in eine Geisterstadt aus einer postapokalyptischen Welt. In den Achtzigern war Prypjat ein luxuriöser Ort für seine Einwohner. Die Infrastruktur war mustergültig und bot alles, was ein Sowjetmensch sich erträumen konnte, und sogar mehr: fünf Schulen, zwölf Kindergärten, ein Krankenhaus, Geschäfte und Einkaufszentren, Cafés und Restaurants für bis zu 5.535 Gäste, zehn Lagerhäuser mit einer Kapazität von 4.430 Tonnen an Gütern, den Kulturpalast ‚Energetik‘, ein Kino, eine Kunstakademie, zehn Turnhallen, drei Schwimmhallen, zwei Stadien, die Fabrik ‚Jupiter‘, ein Busbahnhof, ein naher Zugbahnhof und 33.000 Rosenbüsche. All dies für die rund 50.000 Einwohner: junge, fortschrittliche und gut ausgebildete Menschen aus der gesamten Sowjetunion, denen man ein Leben in Prypjat angeboten hatte. Unglücklicherweise nahm ihr Leben am 26. April 1986 eine dramatische Wendung. Die Einwohner von Prypjat wurden über die Havarie im AKW in drei Kilometern Entfernung nicht informiert. Am 26. April ging das Leben in Prypjat seinen gewohnten Gang: Menschen gingen ihren Routinen nach und Kinder spielten im Freien, wo sie hohe Mengen an Radioaktivität ausgesetzt waren. Erst 36 Stunden später begann die Evakuierung. Busse wurden aus Kiew hierher geschafft, um die Einwohner an sicherere Orte zu bringen. Die Evakuierung dauerte nur drei Stunden. Alles, was die Menschen mitnehmen durften, war etwas Geld, Reisepässe und Kleidung, da sie glaubten, nach drei Tagen wieder zurückzukehren. Dies ist jedoch nie mehr geschehen.
Die Stadt wurde insgesamt drei Mal dekontaminiert. Die Liquidatoren gaben ihr Bestes, um die Stadt zu säubern: sie wuschen jedes einzelne Gebäude ab, da diese von radioaktivem Staub bedeckt waren, trugen die oberste Bodenschicht ab und bedeckten die Straßen mit Beton. All dies führte zu einem deutlichen Rückgang der Strahlung, jedoch nicht ausreichend, um hier wieder menschliche Besiedelung zuzulassen. Daraufhin begann der Bau der Satellitenstadt Slawutytsch, und ein Großteil der Einwohner von Prypjat zogen dorthin um, da die restlichen drei Reaktoren des AKW wieder angefahren wurden, als die Dekontaminierungsarbeiten abgeschlossen waren. Viele Einrichtungen wurden auch nach dem Unglück für verschiedene Zwecke genutzt – manche sind sogar bis heute in Betrieb. Prypjat wurde nach der Katastrophe streng bewacht und ist auch heute noch gesperrt. Doch man findet nicht ein einziges Zimmer mehr, das nicht geplündert worden wäre. Dies geschah direkt nach dem Zerfall der Sowjetunion, als die Sperrzone unbewacht war. Trotzdem ist der Geist der Sowjetunion nach wie vor in der Stadt präsent. Leninportraits, Propagandaplakate und Sowjetfahnen findet man überall. Sie helfen uns dabei, in die Geschichte abzutauchen und längst vergangene Zeiten wiederzuerleben. Die Natur erobert sich das Gebiet unglaublich schnell zurück. Im Sommer gleicht die Stadt einem Dschungel. Und großartige Exemplare sowjetischer Architektur werden von Jahr zu Jahr mehr von Pflanzen überwuchert. Es wird nicht lange dauern, und Prypjat wird verschwinden. Worauf warten Sie also? Kommen Sie und erleben Sie all dies jetzt!
Der wichtigste Teil der Arbeiten an der Beseitigung der Unfallfolgen im Jahr 1986 war der Einschluss des zerstörten Reaktorgebäudes. Zu diesem Zweck begann der Bau der Schutzhülle am 20. Mai 1986, vierundzwanzig Tage nach der Explosion. Trotz der hohen Strahlungslevel wurde der Sarkophag in 206 Tagen fertiggestellt, von Juni bis November desselben Jahres. Doch dieser stellte nur eine vorübergehende Lösung des Problems dar. Der Sarkophag war nur für eine Haltbarkeit von etwa 30 Jahren ausgelegt. Im Dezember 1995 unterzeichnete die Ukraine eine Vereinbarung mit den G7 und der EU über die Etablierung eines Spendenfonds bei der EZB, um dem Land bei der Bewältigung der Herausforderungen durch das Unglück unter die Arme zu greifen. Im September 1997 wurde eine Vereinbarung über den sogenannten ‚Shelter Implementation Plan‘ (SIP) getroffen, was endlich einen Schritt nach vorne bedeutete. Das Programm sah die Umwandlung des Sarkophags in ein umweltsicheres System und den Bau der neuen Schutzhülle vor. Im November 2016 wurden wir Zeugen eines Meilensteins – die neue Schutzhülle wurde über dem alten Sarkophag in Position gebracht. Diesem spektakulären Ereignis gingen viele kleine Schritte voraus, harte Arbeit und Professionalität. Umfassende Vorarbeiten waren auf dem Areal notwendig, um den Bau zu ermöglichen und den Arbeitern so hohen Schutz wie möglich zu gewährleisten. Im Jahr 2007 wurde der Vertrag zum Bau der neuen Schutzhülle an das französische Konsortium Novarka vergeben, die aus den beiden Unternehmen Bouygues und Vinci bestand. Der erste Schritt bestand in der Stabilisierung des bestehenden Sarkophags. Der Bau des NSC begann im Jahr 2012. Es stellt ein internationales Projekt dar. Über 27 Länder waren in den Bau involviert und über vierzig Länder und Organisationen haben dafür knapp zwei Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Die Schutzhülle wurde in zwei Teilen gebaut. Als erster wurde der östliche Teil fertiggestellt. Im Jahr 2014 wurden beide Hälften zu ihrer endgültigen Höhe aufgerichtet und später miteinander verbunden. Hilfssysteme und Equipment zum Abbau wurden installiert, um die notwendigen Arbeiten im Bereich des alten Sarkophags zu minimieren. Im November 2016 wurde die Struktur über dem zerstörten Reaktor vier geschoben. Sie bildet eine Barriere gegen jedwede radioaktive Freisetzung aus dem alten Sarkophag und beinhaltet die technische Ausrüstung, um den Sarkophag zu zerlegen und sein radioaktives Inneres zu verarbeiten. Der Ausdruck „riesig“ beschreibt dieses Konstrukt nicht einmal annähernd. Allein der Stahlrahmen wiegt 25.000 Tonnen. Das ist dreieinhalb Mal so viel wie der Eiffelturm. Das Gesamtgewicht beträgt 36.000 Tonnen. Und mit 108m Höhe ist die Konstruktion hoch genug, um die Kathedrale Notre-Dame de Paris zu bedecken. Die Gesamtlänge beträgt 162m, oder zwei Jumbo Jets. Mit einer prognostizierten Haltbarkeit von 100 Jahren muss die Schutzhülle den Elementen trotzen können. Sie ist gebaut, um Temperaturen zwischen -43°C und +45°C ebenso zu widerstehen wi e einem Tornado der Kategorie drei. Die Besatzung des AKW Tschernobyl wird eine Hauptrolle spielen bei der Überprüfung und Instandhaltung der Schutzhülle und der Sicherstellung ihrer langen Haltbarkeit. Die Herausforderungen der Zukunft sollte man nicht unterschätzen, aber dank des SIP gibt es einen klaren Fahrplan bis in die ferne Zukunft von Tschernobyl.